Projekt „Trauma und Demokratie: Polarisierung in Krisen überwinden“ – Der Forschungsbericht

Worum geht es?

Der von Mehr Demokratie und dem Pocket Project organisierte Forschungsprozess mit rund 350 Bürgerinnen und Bürgern fand als Online-Veranstaltung vom 28. April bis zum 1. Mai 2022 statt. Er wurde wissenschaftlich begleitet vom Cynefin Centre, dem Institut für integrale Studien (IFIS) und dem Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS).

Die Leitfrage lautete: Hilft der bewusste Umgang mit kollektivem Trauma die Demokratie zu stärken und Polarisierung zu überwinden?

Die für eine Demokratie notwendige Verständigung zwischen verschiedenen Positionen ist in Krisen oft nicht mehr möglich. Woran liegt das und was lässt sich dagegen tun? Unser Forschungsprojekt geht davon aus, dass vergangene Negativ-Erfahrungen (Traumata) auch den Umgang mit aktuellen Konflikten und Krisen beeinflussen – und damit demokratierelevant sind. Die Startveranstaltung zum Projekt fand am 12. April 2022 mit mehr als 1.000 Teilnehmenden statt.

Jetzt liegt der Forschungsbericht mit Hintergrundinformationen empirischen Ergebnissen, begründeten Thesen und Ausblicke vor.

Was verstehen wir unter „Trauma“?

Trauma (aus dem Griech., dt. „Wunde“) lässt sich als eine psychische oder emotionale Verletzung verstehen. Sie entsteht durch ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die nicht bewältigt und verarbeitet werden kann. Solche Verletzungen entstehen nicht nur durch Katastrophen, Gewalt oder Unfälle, sondern auch wenn grundlegende Bedürfnisse durch Bezugspersonen unbeantwortet bleiben oder wenn Menschen wiederholt die Erfahrung machen, überwältigt zu werden oder ausgeliefert zu sein.

Der Begriff "kollektives Trauma" bezeichnet die zeitgleiche Traumatisierung zahlreicher Personen im Zusammenhang mit Sklaverei, Krieg, Kolonialisierung, systematischer Unterdrückung oder Genozid. Im Bemühen um ein differenziertes Verständnis des Phänomens beziehen sich wissenschaftliche Zugänge u.a. auf kulturelle und soziale Prozesse des Erinnerns und der gemeinsamen Sinngebung. So kann als „kollektives Trauma“ ein Ereignis verstanden werden, das vom kollektiven Gedächtnis nicht bearbeitet werden konnten und, auch über Generationen hinweg, auf Menschen wirkt. Nicht verarbeitete traumatische Erfahrungen können in aktuellen Krisensituationen aktiviert werden.

Was hat Trauma mit Demokratie zu tun?

Die Seele der Demokratie ist das Gespräch. Doch das Gespräch wird in Zeiten, in denen sich die Krisen aufeinanderstapeln, nicht einfacher. Wenn die Ansichten – etwa zum Thema Krieg in der Ukraine, Corona, Klimakrise – weit auseinanderliegen und immer unversöhnlicher werden, entstehen gesellschaftliche Risse, die sich durch Familien, Freundschaften, soziale und politische Netzwerke ziehen. Die für eine Demokratie notwendige Verständigung zwischen verschiedenen Positionen ist oft nicht mehr möglich. Und auch die Demokratie selbst wird immer mehr in Frage gestellt. Ein Ansatz, um dem zu begegnen ist die Frage: Warum reagieren Menschen in Krisensituationen so wie sie reagieren? Warum kommt es zu Spaltungstendenzen? Unser Forschungsprojekt geht davon aus, dass vergangene Negativ-Erfahrungen (Traumata) auch den Umgang mit aktuellen Konflikten und Krisen beeinflussen – und damit demokratierelevant sind. Wenn solche kollektiven oder individuellen Erfahrungen abgespalten werden und unverarbeitet bleiben, werfen sie ihre Schatten auf aktuelle Konflikte und verhindern angemessene Lösungen. Umgekehrt erleichtert es Diskurs und Lösungsfindung, wenn vergangene Erfahrungen bewusst integriert werden.

Wozu dieses Forschungsprojekt?

Unsere Leitfrage lautete: Hilft der bewusste Umgang mit kollektivem Trauma die Demokratie zu stärken und Polarisierung zu überwinden? Um diese Frage zu beantworten, haben wir die aktuellen Krisen und Spaltungstendenzen unter dem Aspekt der Sinngebung (Sensemaking) und mit dem Wissen um Traumadynamiken genauer angeschaut. Das Projekt hat keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Es hat Muster, Trends und Zusammenhänge an der Schnittstelle von Trauma, Demokratie und Polarisierung herausgearbeitet und leistet damit wissenschaftliche Pionierarbeit.

Wie lief der Prozess ab?

Der Großgruppenprozess mit rund 350 Bürgerinnen und Bürgern, die sich auf Einladung durch Mehr Demokratie und Pocket Project angemeldet hatten, fand als Online-Veranstaltung vom 28. April 2022 bis zum 1. Mai 2022 statt. Vorausgegangen war eine Einführungsveranstaltung mit dem Prozessleiter Thomas Hübl, Ph.D., und Claudine Nierth, Vorstandssprecherin von Mehr Demokratie. Der traumainformierte Großgruppenprozess (Collective Trauma Integration Process) wurde unter Leitung von Thomas Hübl über zwei Jahrzehnte hinweg entwickelt. Er nutzt meditative, dialogische sowie praxisbezogene Methoden der Prozessgestaltung. Im Zentrum steht die bewusste Wahrnehmung persönlicher emotionaler, kognitiver und körperlicher Prozesse sowie der Beziehung zu anderen und zur Gruppe als Ganzes.

Während des Prozesses üben die Teilnehmenden eine „Meta-Kommunikation“, tauschen sich also über das im Hier und Jetzt laufende Geschehen aus. Dadurch werden Inhalte und Dynamiken sichtbar, die normalerweise unbewusst sind. Ebenfalls wichtig ist das „Bezeugen“, also das Erkennen und Anerkennen persönlicher und kollektiver Realitäten. Folgende Techniken und Elemente kamen zum Einsatz: Meditations- und Wahrnehmungsübungen, Angeleitete Schreibübungen, Umfragen oder Stimmungsabfragen, Einzelgespräche zwischen Freiwilligen und dem Prozessleiter im Beisein der ganzen Gruppe, Gespräche zwischen Fachleuten und der Gruppenleitung, Reflexion in Kleingruppen.

Wie lief die Forschung ab?

Die Forschung kombinierte drei Methoden: Zentrales Instrument für die Datenerhebung war die SenseMaker Software. Mit Hilfe des SenseMaker wurden von den Teilnehmenden an mehreren Stellen des Prozesses kurze Geschichten aufgeschrieben und selbst bewertet. Die Software zeigt, ob und wie sich Erzählungen und ihre Bewertung im Laufe des Prozesses verändern. Durch die Auswertung und Zusammenführung der einzelnen Mikro-Geschichten zeigen sich Muster, Trends, Tendenzen, Ausnahmen, etc.

Zusätzlich zu den Erzählungen der Teilnehmenden fand eine Prozessbeobachtung durch 15 geschulte Personen statt, die an Hand von vordefinierten Kategorien (z.B. Aktivierung, Integration, starke Emotionen) den gesamten Prozess beobachteten und kodierten. Vor und nach dem Prozess wurden außerdem Fokusgruppen mit Teilnehmenden veranstaltet. Im Kern stand die Frage: „Welche Qualitäten/Kompetenzen brauchen wir, um angesichts der aktuellen Krisen eine zukunftsfähige Demokratie zu bauen?“ Ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat die Daten analysiert und interpretiert.

Die Ergebnisse

Empirisch belegte Ergebnisse

Das Verhältnis der Teilnehmenden zur Demokratie wurde im Verlauf des Prozesses positiver.

  • Am Anfang des Prozesses überwogen in den Erzählungen „gemischte Gefühle“, von Distanz, Politikverdrossenheit bis hin zu Vertrauen und dem Wunsch nach gesellschaftlicher Mitgestaltung. Am Ende des Prozesses überwogen Vertrauen in die Selbstwirksamkeit, Mitgefühl und Mut zur Demokratieentwicklung stark.
  • Durch den Prozess wurden abstrakte Begriffe wie Politik, Teilhabe, Demokratie, Gesellschaft für die Teilnehmenden konkret erlebbar und lebendig.
  • Nach dem Prozess haben die Teilnehmenden ein genaueres Bild davon, welche Qualitäten und Kompetenzen für eine demokratische Bewältigung von Krisen hilfreich sind.
  • Die Verbundenheit mit sich und anderen und das Gespräch wurden im Verlauf des Prozesses als wesentlich für die Demokratiestärkung und Krisenbewältigung erkannt.
  • Durch die Auseinandersetzung in der Gruppe lösten sich Kommunikationsblockaden und auch emotionale oder verdrängte Themen konnten leichter bearbeitet werden.
  • Durch den traumainformierten Prozess werden eigene belastende Erfahrungen leichter zugänglich und das Verständnis für schwierige Erfahrungen anderer wächst.

Trends und Thesen

Trend 1: Im Rahmen des Trauma-Integrationsprozesses erkennen die Teilnehmenden, wie stark persönliche Verletzungen und kollektive Erinnerungen den Umgang mit den aktuellen Krisen beeinflussen.

Trend 2: Die Motivation, sich für die Demokratie zu engagieren, steigt durch den traumainformierten Gruppenprozess.

Trend 3: Der traumainformierten Gruppenprozess macht die Vielstimmigkeit in der Demokratie konkret erfahrbar. Die Teilnehmenden erleben Resonanz: Sie werden gehört und erleben sich als wirkmächtig.

Trend 4: Durch das Gefühl, gehört zu werden und selbst Einfluss zu haben, können Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten besser ausgehalten werden. Dadurch können die Teilnehmenden angemessener auf die aktuellen Krisenerfahrungen reagieren.

Nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch in der Politik, den Medien, der Wissenschaft, der Wirtschaft ist es wichtig, schwierige Erfahrungen zu verarbeiten, zu kommunizieren und zu integrieren. Wir brauchen neue Formate und Demokratie-Werkzeuge für ein gutes Zusammenleben und für den Umgang mit Krisen. Besonders wichtig scheinen dabei Austausch- und Gesprächsräume zu sein.

Zukunftsbilder: Eine neue Qualität von Demokratie

  • Zukunftsbild 1: Spaltungsgefühle und Trennungserfahrungen im Kontext der Corona Pandemie und anderer Krisen sollten individuell und auch gesellschaftlich aufgearbeitet werden. Dies stärkt soziales und politisches Vertrauen, gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Bereitschaf, die Demokratie mitzugestalten.
  • Zukunftsbild 2: Demokratische Verständigungsprozesse profitieren von Trauma-Informiertheit. Durch bewusstere Wahrnehmung der persönlichen, kollektiven und generationenübergreifenden Aspekte von Traumatisierung kann größere Bezogenheit zu anderen Menschen und zur Welt hergestellt werden.
  • Zukunftsbild 3: Die Gesellschaft braucht Räume, in denen sich Menschen auf einer tiefgehenden Ebene begegnen können. Menschen wollen mitwirken, und sie wollen auf ihr Reden und Tun eine Rückmeldung erhalten. Wenn das gelingt, wird Demokratie konkret erfahrbar und lebendig.
  • Zukunftsbild 4: Eine vielversprechende Möglichkeit, Vielfalt erfahrbar zu machen und gemeinsame Sinnstiftung zu ermöglichen, sind traumainformierte Großgruppenprozesse und das Abbilden von sich verändernden Erzählungen (z.B. durch SenseMaker). Dadurch wird die Dialogfähigkeit, auch zu kritischen Themen, gestärkt und dem Auseinanderdriften gesellschaftlicher Gruppen entgegengewirkt.
  • Zukunftsbild 5: Im nächsten Schritt sollten modellhaft traumainformierte Prozesse mit Bürgerinnen und Bürgern auf den unterschiedlichen politischen Ebenen stattfinden.
  • Zukunftsbild 6: Traumainformierte Gruppenprozesse sollten systematisch erforscht werden, um sie besser zu verstehen und gezielt anwenden zu können.
     
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