Erneute Verfassungsbeschwerde gegen  CETA

Wir ziehen wieder nach Karlsruhe: Mehr Demokratie, Foodwatch und Campact legen Verfassungsbeschwerde gegen die Ratifizierung des Freihandelsabkommens CETA ein. Bundestag und Bundesrat haben CETA in dieser Form zugestimmt. Konkret zielt die Verfassungsbeschwerde auf zwei Elemente des Abkommens: Das Ausschuss-System und die Schiedsgerichtsbarkeit. Ausschüsse und Schiedsgerichte sind mächtige Akteure. Doch unsere Parlamente haben zu wenig Einfluss auf sie.

Es gibt ein Recht auf demokratisch legitimierte Entscheidungen

Vor Gericht werden wir von Professor Wolfgang Weiß und Professorin Kathrin Groh vertreten. Die Ausschüsse haben weitreichende Beschlussfassungskompetenzen, sind zu selbständigen Hoheitsakten befugt, können Recht setzen und das CETA-Abkommen verändern. Doch es mangelt an demokratischer Kontrolle. Es gibt ein Recht auf demokratisch legitimierte Entscheidungen. „Und das wird verletzt", so Weiß. Auch die Richterinnen und Richter der Schiedsgerichte werden vom Gemeinsamen Ausschuss benannt. „Der Bundestag ist nicht beteiligt an ihrer Auswahl", kritisiert Prof. Kathrin Groh. Grundlage der Rechtsprechung ist das Investitionsschutz-Kapitel des CETA-Abkommens, das vor unbestimmten Rechtsbegriffen wimmele. „Die Schiedsgerichte sind also demokratisch unzureichend legitimiert und haben eine enorme Entscheidungsmacht – mit weitreichenden Folgen für die Bürgerinnen und Bürger", fasst Groh zusammen.

Unser Ziel: Orientierungspunkte und Leitlinien

Wir gehen nicht davon aus, CETA in Gänze kippen zu können. Wir setzen darauf, dass das Bundesverfassungsgericht Orientierungspunkte und Leitlinien im Sinne der Beschwerdeführer festlegt. „Die Chancen dafür stehen gut“, ist Roman Huber überzeugt. Das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen CETA trat 2017 vorläufig in Kraft und wurde im Januar 2023 vom Bundestag und Bundesrat ratifiziert. Binnen Jahresfrist kann gegen die Ratifizierung Verfassungsbeschwerde eingelegt werden – was nun geschieht. 2016 hatte Mehr Demokratie zusammen mit Foodwatch, Campact und einer Achtelmillion Menschen eine erste Verfassungsbeschwerde gegen das vorläufige Inkrafttreten von CETA eingelegt. Sie war teilweise erfolgreich: Das Bundesverfassungsgericht erteilte 2016 Auflagen für die vorläufige Anwendung von CETA, erklärte das Abkommen aber 2022 für nicht verfassungswidrig. Vollständig in Kraft tritt CETA, wenn alle EU-Mitgliedsstaaten es ratifiziert haben, wenn also die Parlamente aller EU-Mitgliedsstaaten ihm zustimmten.

 

CETA – Kein Ende in Sicht?

Mehr Demokratie zieht erneut gegen das Handelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada vor das Bundesverfassungsgericht. Vertreten wird der Verein dabei von Kathrin Groh, Professorin für Öffentliches Recht an der Universität der Bundeswehr München, und Wolfgang Weiß, Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Europa- und Völkerrecht, an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.

  • Warum beschäftigt sich Mehr Demokratie überhaupt mit CETA?

    Das Handelsabkommen CETA wird seit Jahren intensiv diskutiert und kritisiert – neben Umwelt- und Verbraucherschutz gefährdet CETA auch die Demokratie. Aktuell wird CETA „vorläufig“ angewendet, das heißt, das Abkommen ist noch nicht von allen Mitgliedstaaten der EU beschlossen. Mehr Demokratie hat 2016 gemeinsam mit foodwatch, Campact und rund 125.000 Menschen die bis dahin größte Verfassungsbeschwerde der Bundesrepublik eingereicht. Hauptkritikpunkt waren die in CETA vorgesehenen Ausschüsse. Diese Steuerungsgremien würden den Einfluss der Parlamente und damit auch die Stimmen der Wählerinnen und Wähler schwächen. Außerdem entstünde durch die Schiedsgerichte eine überflüssige Paralleljustiz.

    2016 hat das Bundesverfassungsgericht über Auflagen für die vorläufige Anwendung von CETA entschieden: Erstens dürfen nur die Teile angewendet werden, die in die alleinige Zuständigkeit der EU fallen. Schiedsgerichte dürfen nicht vorläufig angewendet werden. Zweitens müssen die CETA-Ausschüsse demokratisch an die Parlamente der Mitgliedstaaten rückgebunden werden. Drittens müssen Deutschland und andere Mitgliedstaaten die vorläufige Anwendung von CETA einseitig kündigen können.

    2022 hat das Bundesverfassungsgericht CETA zwar nicht als verfassungswidrig eingestuft, aber nochmals die Auflagen von 2016 betont. Ohne unsere erste Verfassungsbeschwerde hätte es diese Klarstellungen nicht gegeben.

  • Wozu noch eine CETA-Verfassungsbeschwerde?

    Inzwischen haben Bundestag und Bundesrat CETA ratifiziert. Vollständig in Kraft tritt das Abkommen erst, wenn alle Mitgliedstaaten unterzeichnet haben. Für Mehr Demokratie öffnete sich damit ein Zeitfenster: Ein Jahr lang können Bürgerinnen und Bürger gegen das vom Bundestag beschlossene Gesetz vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Genau das tun nun Roman Huber (Mehr Demokratie), Dr. Felix Kolb (Campact) und Dr. Chris Methmann (foodwatch) als Beschwerdeführer. Denn die Demokratieprobleme in CETA sind nicht gelöst.

  • Worum geht es bei der neuen Verfassungsbeschwerde?

    In der Kritik stehen das Ausschusssystem und die Schiedsgerichtsbarkeit. Die Beschwerdeführer vertreten die Auffassung, dass CETA das Recht auf Demokratie untergräbt, weil der Bundestag seine Mitwirkung bisher nicht ausreichend gesichert hat. Der Bundestag hat eine Integrationsverantwortung: Er muss sicherstellen, dass bei Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU und bei der Festlegung von Entscheidungsverfahren in der EU demokratische Grundsätze im Sinne des Grundgesetzes beachtet werden. Wir hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht Vorschläge macht, wie der Bundestag das sicherstellen kann, sobald CETA vollständig in Kraft getreten ist.

    Bei der Prüfung durch das Verfassungsgericht ist auch die sogenannte Identitätskontrolle wichtig. Identitätskontrolle heißt: Wenn zwischenstaatliche Organe eingerichtet werden, die in der Bundespolitik Hoheitsgewalt ausüben, müssen sie sich direkt oder zumindest indirekt vom Bundestag ableiten lassen (das nennt man Legitimationskette). Denn in Artikel 38, Absatz 1 des Grundgesetzes ist geregelt, dass wir als Bürgerinnen und Bürger in „allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ Abgeordnete wählen, die als „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind. Entweder muss der Bundestag an Entscheidungen im Rahmen von CETA personell beteiligt sein oder er muss Sachentscheidungen beeinflussen können.

  • Wovon hängt ab, ob die Verfassungsbeschwerde zulässig ist?

    Pro Jahr werden mehrere Tausend Verfassungsbeschwerden eingereicht, der Großteil davon wird gar nicht erst angenommen, Erfolg haben durchschnittlich nicht einmal zwei Prozent der Beschwerden.[1] Um die hohe Hürde der Zulässigkeit überhaupt zu schaffen, hat sich unsere Prozessvertretung intensiv mit den bisherigen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und dem Gutachten des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum CETA-Gerichtssystem beschäftigt.

    Das Gericht wird prüfen, ob überhaupt eine Übertragung von Hoheitsgewalt auf die EU vorliegt. Das ist dann der Fall, wenn sich die CETA-Organe direkt auf die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland auswirken und deren Rechte beschneiden könnten. Wir gehen mit unserer Verfassungsbeschwerde davon aus, dass wir versuchen müssen, das Gericht von dieser Sichtweise zu überzeugen. Denn die Entscheidungen im Rahmen von CETA betreffen das individuelle und kollektive Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger. Die Schiedsgerichtsbarkeit kann zum Beispiel dazu führen, dass bestimmte Regulierungen oder Gesetze gar nicht beschlossen werden, aus Angst vor Konzernklagen. Die CETA-Ausschüsse könnten zum Beispiel über den Abbau von Zöllen oder die Anerkennung von Berufsqualifikationen entscheiden – auch das betrifft die Menschen in Deutschland direkt.

  • Was sind unsere Argumente beim Thema „Schiedsgerichte“?

    In CETA ist eine feste, zwischenstaatliche Gerichtsorganisation geplant. Also immerhin keine Ad-hoc-Gerichtsbarkeit wie bei anderen Schiedsgerichtssystemen. Der Gemischte CETA-Ausschuss soll 15 Schiedsrichterinnen und -richter bestimmen, die in je drei Kammern eingeteilt werden. Fünf davon sollen aus Kanada kommen, fünf aus EU-Mitgliedstaaten und fünf aus Drittstaaten. Wir sagen: Diese Schiedsgerichte sind nicht ausreichend legitimiert. Denn Schiedsgerichte können auch staatliche Beschlüsse und das Gemeinwohl beeinflussen – genau wie Verfassungs- oder öffentlich-rechtliche Gerichte. Sie müssen daher genauso gut legitimiert sein wie „normale“ Gerichte.

     

  • Die personelle Legitimation genügt nicht

    Die Nationalstaaten haben nur sehr wenig Einfluss auf die Ernennung der Richterinnen und Richter. Der CETA-Ausschuss benennt sie auf Grundlage einer vom Europäischen Rat vorgelegten Liste. Die Regierungen der Mitgliedstaaten können zwar Namen für die Liste vorschlagen, diese Namen müssen aber nicht zwangsläufig übernommen werden. Der Rat der EU kann mit relativer Mehrheit diese Namensliste beschließen. Die deutsche Vertretung im Rat kann dabei also überstimmt werden. Der Bundestag hat ebenfalls keine verbindlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten: Artikel 23 im Grundgesetz garantiert zwar die Mitwirkung des Bundestags, aber die Regierung ist an seine Stellungnahme nicht gebunden.

  • Die sachliche Legitimation genügt nicht

    Der Bundestag kann nicht mitsteuern, auf welcher Grundlage Recht gesprochen wird. In der bundesdeutschen Politik bilden hingegen vom Bundestag beschlossene Gesetze die Grundlage für die Rechtsprechung. Außerdem enthält das Investitionsschutzkapitel von CETA viele unbestimmte Rechtsbegriffe. Es gibt also großen Entscheidungsspielraum für die Schiedsrichterinnen und -richter. Sie können zum Beispiel auslegen, was „offenkundige Willkür“, „offenkundig überzogene Maßnahmen“, „missbräuchliche Behandlung“ oder „Schädigung von Investitionen im wesentlichen Maße“ bedeuten. Wenn ein kanadischer Investor sich „benachteiligt“ fühlt, dann wägen sie das gegen Gemeinwohlaspekte ab. Das ist nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine politische Bewertung.

  • Viele Kritikpunkte, wenig Legitimation

    Das Investitionsschutzkapitel von CETA ist nicht an Grund- und Menschenrechte gebunden. Dass diese in anderen Kapiteln erwähnt sind, lässt darauf schließen, dass sie hier offenbar nicht angewandt werden sollen. Es ist fraglich, wie neutral das Schiedsgericht gegenüber Deutschland ist. Im Schiedsgericht ist in jedem Fall ein Richter oder eine Richterin aus Kanada oder einem Drittstaat, aber nicht notwendigerweise jemand aus dem deutschen Rechtskreis vertreten. Hinzu kommt, dass sich Schiedsrichterinnen und -richter oft eher durch Handels- und Investitionsrecht qualifizieren. Gemeinwohlorientierte oder umweltrechtliche Sichtweisen könnten dadurch zu kurz kommen.

    Ein niedriges Legitimationsniveau wäre noch zu rechtfertigen, wenn es bei CETA darum ginge, die EU näher zusammenzubringen („besondere Integrationsinteressen“). Tatsächlich geht es aber um den Freihandel mit einem Drittstaat (Kanada), sodass eigentlich ein hohes Legitimationsniveau notwendig ist.

     

  • Das Gleichheitsgrundrecht ist gefährdet

    Laut Artikel 3, Absatz 1 im Grundgesetz sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Wir meinen: Es geht nicht darum, die Rechte kanadischer Investorinnen und Investoren in Deutschland mit denen deutscher Investorinnen und Investoren in Kanada zu vergleichen. Sondern die Rechte der Staatsbürgerinnen und -bürger in Deutschland müssen mit Investorenrechten verglichen werden. Hier sehen wir eine Ungleichbehandlung: Kanadische Konzerne können vor deutsche Gerichte ziehen und vor Schiedsgerichten auf Schadensersatz klagen. Im Gegensatz dazu können deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger – und übrigens auch deutsche Investorinnen und Investoren – nur einen Rechtsweg wählen. Damit werden deutsche Unternehmen gegenüber ausländischen Unternehmen diskriminiert. Das Verfassungsgericht soll hier die Verhältnismäßigkeit prüfen: Ist es wirklich notwendig, Investitionsschutz mit einer eigenen Schiedsgerichtsbarkeit zu garantieren, um kanadische Investitionen nach Deutschland zu holen? Und ist dafür diese Ungleichbehandlung in Kauf zu nehmen? Wir meinen: nein. Schiedsgerichte sind weder geeignet noch erforderlich, um die Wirtschaft positiv zu beeinflussen.

  • Was sind unsere Argumente gegen das Ausschusssystem?

    CETA sieht den Gemischten Ausschuss und einige Unter- und Sonderausschüsse vor. Der Gemischte Ausschuss ist das Hauptorgan und hat sehr viele Befugnisse, unter anderem die Weiterentwicklung des Vertrags. Er kann Protokolle und Anhänge ändern. Er kann auch das Investitionsschutzkapitel mit seinen unklaren Rechtsbegriffen (siehe oben) auslegen. Im Gemischten Ausschuss ist Deutschland nicht vertreten, dort sitzen lediglich Vertreterinnen und Vertreter Kanadas und der EU.

  • Rechtssetzung und Ausführung in einer Hand

    Der Gemischte CETA-Ausschuss ist zugleich Exekutiv- und Legislativ-Organ. Diese Vermischung ist an sich fragwürdig. Hinzu kommt, dass deutsche Vertreterinnen und Vertreter nicht an der Rechtssetzung beteiligt sind. Wenn überhaupt kann über den Rat Einfluss genommen werden. Hier hat, wie oben erläutert, die Regierung und erst recht der Bundestag nur begrenzten Einfluss. In unserer Verfassungsbeschwerde vertreten wir die Auffassung, dass die Standpunkte im Rat einstimmig festgelegt werden müssten. Die Zustimmung Deutschlands im Rat wäre somit zwingend notwendig. Nach Auffassung unserer Prozessbevollmächtigen gilt das aber bisher nur für die vorläufige Anwendung, nicht für das endgültig beschlossene CETA. Damit ist die deutsche Mitwirkung nicht ausreichend gesichert.

  • Fehlende rechtliche und personelle Anbindung

    Es gibt nach unseren Erkenntnissen keinen festen Rahmen und keine Grenzen für die Weiterentwicklung von CETA. Ähnlich wie oben für die Schiedsgerichte beschrieben, ist die Rechtssetzung durch den Gemeinsamen Ausschuss sachlich und personell ungenügend angebunden.

  • Wie stehen die Chancen für die Verfassungsbeschwerde?

    Falls die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, gibt es Erfolgsaussichten. Die Zulässigkeitsprüfung zu schaffen ist – wie oben beschrieben – eine erhebliche Hürde. Dass CETA komplett gekippt wird halten wir für eher unwahrscheinlich. Die Chancen, dass Orientierungspunkte und Leitlinien benannt werden, stehen aber gut. Davon abgesehen geht es bei unserer Verfassungsbeschwerde auch um die Zukunft: Die Entscheidung des Gerichts kann Standards setzen und grundsätzliche Fragen (zum Beispiel dazu, wie die Mitwirkungsrechte des Bundestags zu sichern sind) auch für weitere Abkommen klären. Das Verfahren hat einen Wert an sich, auch wenn die Gewinnaussichten nicht sehr hoch sind.

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